schreibt
“Verarbeitet habe ich das alles nie”
Die Missbrauchsgeschichte meiner Mutter
1995: Im Fernsehen läuft „Arabella“. Ich sitze mit meiner Mutter auf dem Sofa unserer Wohnung in einem Plattenbau im Zwickauer Land. Ich bin vier, vielleicht fünf Jahre alt. Die Sendung ist vorbei und die Moderatorin beendet die Talkrunde mit einem Aufruf an die Zuschauer. „Werden Sie Gast in meiner nächsten Sendung. Sie wurden vergewaltigt? Dann rufen Sie an.“ „Ja“, sagt meine Mutter und schaltet um.
1998: Meine Mutter und ich machen einen Spaziergang mit der schwangeren Frau meines Großcousins. Ich bin nicht älter als sieben. „Als wir Kinder waren, hat er uns angefasst. Bei dem musst du aufpassen“, sagt meine Mutter.
Dass es in meiner Familie in der Vergangenheit Fälle von sexuellem Missbrauch gab, war mir schon lange bewusst. Dass meine Mutter eines der Opfer war ebenfalls. Doch darüber geredet habe ich mit ihr bisher nicht. Es gab nie einen Grund das Thema anzusprechen und ich wusste nicht, ob sie überhaupt darüber reden möchte.
Unser aktuelles Titelthema hat mich schließlich dazu gebracht, meine Mutter auf ihre Erfahrungen anzusprechen. Ich war überrascht, als sie sofort einwilligte mir alles zu erzählen. Ein paar Tage vor Weihnachten sitzen wir zusammen in ihrer Küche. Ich lege mein Handy auf den Tisch, drücke den Aufnahmeknopf der Diktiergerät-App und lasse meine Mutter reden.
„Er hat mir zwischen die Beine gefasst, hat sich einen ins Zeitungspapier abgewichst und das dann in den Ofen geworfen. Das war das Ekligste.“ Als meine Mutter zwölf Jahre alt war, hat sie einmal in der Woche bei ihrer Großmutter Mittagsschlaf gemacht. Diese wohnte in einer Wohnung nicht weit vom Elternhaus meiner Mutter zusammen mit ihrem Lebensgefährten. Zwei Jahre lang hat dieser Mann meine minderjährige Mutter missbraucht. Er kam zu ihr ins Bett, sie musste sich auf ihn setzen, sich küssen lassen.
„Ich habe mir nichts dabei gedacht als Kind. Ich weiß nicht warum. Nicht aufgeklärt gewesen. Dass es nicht in Ordnung ist, was er da macht, habe ich aberschon gewusst.“ Meine Mutter hat ihre Großmutter dennoch weiterhin besucht. „Ich habe meine Oma ja gern gehabt. Sie hat das alles nicht gewusst, denke ich.“ Manchmal hat er ihr Geld gegeben. „20 Mark. Damit ich nichts sage. Das war viel Geld für mich. Da habe ich’s eben genommen.“ Von einer ihrer Schwestern hat meine Mutter später erfahren, dass sie ebenfalls vom Lebensgefährten der Großmutter misshandelt wurde.
Nicht nur in der Wohnung ihrer Großmutter wurde meine Mutter von einem Verwandten sexuell missbraucht. Etwa zur selben Zeit besuchte sie regelmäßig ihren Onkel um mit ihm Mathe zu üben. Zusammen mit ihrer anderen Schwester hat sie an diesen Tagen auch manchmal bei ihm geschlafen. „Oft ist er mitten in der Nacht einfach ins Zimmer gekommen. Der wollte nur, dass wir beide uns oben ohne hinstellen, damit er uns streicheln konnte. Sonst nichts weiter.“
Ich unterbreche sie: „Warum sagst du nichts weiter? Als ob das nichts wäre.“ „Ja stimmt“, sagt meine Mutter, lacht und schüttelt den Kopf. „Ich sage einfach nichts weiter.“ Als ich noch klein war, war sie zu Besuch bei ihrem Onkel und seiner Frau. Als sie mir gerade die Flasche geben wollte, kam er ins Zimmer und hat meiner Mutter gesagt, wie schön sie sei. Er wollte sie wieder anfassen. Meine Mutter hat sich gewehrt. Das war das letzte Mal, dass er sie belästigt hat.
„Zu der Zeit, als das alles passiert ist, als ich noch Kind war, habe ich niemandem etwas davon erzählt. Zu Hause hatte ich nur Angst. Dann hätte ich vielleicht noch Dresche bekommen.“ Meine Mutter wurde nicht nur zum Opfer sexueller Gewalt. Ihr Vater hat sie und ihre Geschwister regelmäßig verprügelt. Als meine Mutter und ihr Zwillingsbruder neun Monate alt waren, hat ihre Mutter die Familie verlassen und ist nach Westdeutschland gegangen. Ihr Vater hat die Zwillinge sofort in ein Kinderheim gegeben. Seine neue Frau hat sie aus dem Heim geholt, als beide vier Jahre alt waren.
„Mein Vater wollte uns nie. Der hat uns nur beschimpft. Vor allem mein Zwillingsbruder ist von ihm misshandelt worden. Wenn der Prügel gekriegt hat, bin ich schnell in irgendein Zimmer gerannt und habe mir die Ohren zugehalten, damit ich ihn nicht schreien höre. Das kommt bei mir heute noch oft hoch.“ Mein Großvater schlug meine Mutter und ihre Geschwister meistens mit einer Hundepeitsche. Eines Tages versteckte sie der Zwillingsbruder meiner Mutter. „Da hat mein Vater eine Stopfnadel genommen, ihm den Mund zugehalten und den Hintern zerstochen. Meine Stiefmutter ist dann zum ersten Mal dazwischen gegangen.“ Nach diesem Vorfall wollte eine Verwandte meinen Großvater anzeigen. Aus Angst, dass er dann ins Gefängnis kommt, hat sie es nicht getan.
Heute ist das Netz von Anlaufstellen, an die sich Opfer von Gewalt und sexuellem Missbrauch wenden können, gut ausgebaut. Es gibt Frauenhäuser, Beratungsstellen und Hilfstelefone.Meine Mutter wuchs in der DDR auf. Dort war die Situation völlig anders. In einem Interview mit dem Deutschen Frauenrat spricht Dr. Christine Bergmann, ehemalige unabhängige Beauftragte zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, über die Situation von Missbrauchsopfern in der DDR. „Zu der Zeit war häusliche Gewalt kein öffentliches Thema. In der heilen sozialistischen Gesellschaft gab es keine prügelnden Partner.“
Bergmann erzählt weiter, dass betroffene Frauen bestenfalls im privaten Umfeld Hilfe fanden und dass es kein staatliches Hilfesystem für Missbrauchsopfer gab. Meine Mutter hätte sich als Kind an ihre Familie wenden können, um mit jemandem über die sexuelle Gewalt, der sie ausgesetzt war, zu sprechen. Nur war ihre Familie genau der Ort, an dem sie diese Gewalt erfuhr. Die Angst vor ihrem tyrannischen Vater und das geringe Vertrauen in die schwache Stiefmutter brachten meine Mutter zum Schweigen.
Mit den Folgen des Missbrauchs hat meine Mutter bis heute zu kämpfen. „Ich bin beim Sex immer wie verkrampft und hypnotisiert. Manchmal bin ich richtig neidisch auf Menschen, die sich sexuell fallen lassen können.“ Bei ihrem ersten Freund ließ sie sich Ausreden einfallen, wenn er mit ihr schlafen wollte. „Ich konnte einfach nicht. Ich glaube schon, dass das was mit meinen Erfahrungen als Kind zu tun hat. Verarbeitet habe ich das alles nicht.“
Kurz nachdem sie sich von meinem Vater getrennt hatte, ging meine Mutter zum ersten Mal zu einer Psychologin. „Die wollte immer, dass ich schreie, um alles raus zu lassen. Das war mir nichts. Irgendwann habe ich das dann abgebrochen.“ Meine Mutter sagt, sie würde nie wieder zu einem Psychologen gehen. Sie sagt aber auch, dass sie weiß, dass sie es eigentlich noch einmal versuchen müsste. „Damit ich mal richtig lieben kann. Mich gehen lassen kann. Aber dafür brauche ich auch einen Partner, der mich liebt und anerkennt. Das hatte ich bis jetzt nur einmal.“
Mit 24 Jahren war meine Mutter auf Parteischule. Dort lernte sie einen Mann kennen. Er war zehn Jahre älter als sie und Familienvater. Für ein halbes Jahr trafen sich die beiden regelmäßig auf dem Gelände der Schule. „Ich kann nicht beschreiben, was er gemacht hat, aber es war wunderschön und ich bin immer wieder zu ihm hin. Ich glaube, ich habe immer einen Vaterersatz gesucht. Bei ihm habe ich mich zum ersten Mal geborgen gefühlt.“ Die Affäre war mit dem Abschluss der Parteischule vorbei. Der Mann ging zurück zu seiner Frau und seinen Kindern. „Bei unserer Verabschiedung habe ich nur geheult. Den hätte ich wirklich gerne gehabt.“
Ich beende die Aufnahme. Die Flut an Informationen und das Ausmaß des Missbrauchs, das meine Mutter ertragen musste, überfordern mich. Ich bin voller Wut und Ekel. Ich bin bestürzt darüber, dass die Dinge, die meiner Mutter und ihren Geschwistern angetan worden, in meiner Familie anscheinend völlig verdrängt wurden. Rechtlich kann man keinen der Männer mehr belangen. Einer von ihnen ist schon lange tot und die Taten meines Großonkels und Großvaters sind längst verjährt. Ich könnte den beiden anklagende Briefe schreiben. Ich könnte die Stiefmutter meiner Mutter fragen, warum sie jahrelang zugesehen hat, wie ihr Mann seine Kinder schwer misshandelt. Nur weiß ich nicht, wem das helfen würde.
2015: Ich sitze mit meiner Mutter auf dem Sofa ihrer Wohnung im Zwickauer Land. Ich bin 23 Jahre alt. Im Fernsehen läuft eine alte Videokassette, auf der zu sehen ist, wie sie mich im Arm hält und füttert. Gewalt habe ich in meiner Kindheit nie erfahren. Seit dem Gespräch mit meiner Mutter weiß ich, dass das in meiner Familie keine Selbstverständlichkeit ist.
„Ich habe mir nichts dabei gedacht
als Kind. Ich weiß nicht warum. Nicht aufgeklärt gewesen.“
„Manchmal bin ich richtig neidisch auf Menschen, die sich sexuell
fallen lassen können.“