
Die Fahrstuhltür öffnet sich. Er tritt in das grelle Licht der verspiegelten Kabine. Das Glas ist gesprenkelt mit Schleimschlieren in unterschiedlichen Grün- und Gelbtönen. Brocken variierender Größe und Viskosität sind beigemischt. Diesen Drang, die eigenen Ausscheidungen so prominent im öffentlichen Raum zu präsentieren, wird er nie verstehen. Ein Junge aus der Parallelklasse, der auf seinem Stockwerk wohnt, animierte ihn vor ein paar Wochen an einem Schulmorgen bei einer ungewollten gemeinsamen Fahrstuhlfahrt dazu, es ihm gleichzutun und an den Spiegel zu spucken. Als er sich weigerte, rotzte der Junge ihm auf die Schuhe und rannte lachend aus der aufgleitenden Tür in die Dämmerung davon.
Heute hat er die Kabine für sich und überprüft in einem unbefleckten Stück Spiegel die Größe des Pickels an seinem Kinn. Der harte kleine Hügel hatte im Badezimmer auch unter mehrmaligem Drücken aus unterschiedlichen Winkeln nicht platzen wollen. Jetzt pulsiert er schmerzhaft und sticht im Halogenlicht des Fahrstuhls dunkelrosa in seinem blassen Gesicht hervor. Bei der Vorstellung, heute vor der gesamten Klasse mit dem Pickel auf dem Kinn sein Referat über Windkraftanlagen zu halten, werden seine Knie weich.
Den Weg zur Schule geht er jeden Morgen allein. Die anderen Kinder aus seiner Straße bewegen sich in kleineren und größeren Gruppen an ihm vorbei. Sie sind umgeben von Atemdunst, der in der eisigen Luft aus ihren Mündern quillt. Für eine Weile war er Teil dieser Gruppen. Doch irgendwann haben die anderen nicht mehr auf ihn gewartet oder sind einfach an ihm vorbeigelaufen, wenn er auf dem Fußweg vor der Hochhaussiedlung bereitstand. Es macht ihm nicht wirklich etwas aus, sagt er sich. Er konnte den Gesprächen seiner Schulkameradinnen und -kameraden ohnehin nie etwas abgewinnen. Und jetzt, in dem Alter, wo Jungs und Mädchen in nach Geschlechtern getrennten Scharen zur Schule laufen, ist er froh, nicht in einem Pulk von Mitschülern gefangen zu sein, die über Handgranaten, Autofelgen und Brüste reden.
In der Schule setzt sich jeden Tag die Einsamkeit des frühen Morgens fort. Den anderen ist seine Stille unheimlich. Nach und nach verschwindet der niemals lächelnde Junge aus der Wahrnehmung seiner Mitschülerinnen und -schüler. Die Unterrichtsstunden lässt er in der letzten Reihe sitzend mit geradem Rücken und starrem Blick Richtung Tafel an sich vorüberziehen. Weil er weder mit Glanzleistungen noch mit besonders schlechten Noten auffällt, übersehen ihn auch irgendwann seine Lehrerinnen und Lehrer.
Heute folgt er an der Kreuzung mit dem Döner-Imbisswagen einem vagen Impuls und biegt nicht nach rechts ab, folgt nicht den anderen Jungen und Mädchen zur Schule. Er überquert einen Zebrastreifen und geht in die entgegengesetzte Richtung, dem Rauschen der Autobahn folgend. Seine Füße frieren in den für die Jahreszeit viel zu dünnen Stoffschuhen. Eigentlich sehnt er sich nach der Wärme des Klassenzimmers, aber sein spontan gefasster Plan pumpt wärmendes Blut durch seinen Körper.
Der Gedanke nimmt Gestalt an, als er sich dem tiefen Riss in der Straße nähert, in dem Bauarbeiter seit Wochen Rohre reparieren. Die Rohre, die wie offengelegte Knochen im sandigen Boden liegen und von denen Jahrzehnte alter schwarzer Lack abblättert, lassen ihn an die Raucherlunge seiner Oma denken. Am Rand des Lochs, direkt hinter dem Bauzaun, liegt ein Haufen Pflastersteine. Er greift unter dem Zaun hindurch und nimmt sich einen.
Sein Vater kam gestern Abend wieder nicht nach Hause. Es war der vierte Abend innerhalb einer Woche, an dem der Junge sich am fast leeren Kühlschrank bedienen musste, um seinen Hunger etwas zu stillen. Gestern war es eine Scheibe Toast mit der letzten Scheibe welliger Salami. Seit seine Mutter die Familie vor einigen Monaten verlassen hat, verbringt sein Vater die meisten Nächte in den Kneipen der Stadt oder auf den Sofas von Kumpels, die ihre Überforderung mit dem eigenen Leben wie er in literweise Bier und Doppelkorn ertränken. Der Junge existiert für den Vater nur noch als diffuse Silhouette in Kinderform in einem Nebel aus Kopfschmerzen und Übelkeit.
Das Rauschen der Autobahn wird immer lauter. Auf der anderen Straßenseite sieht er jetzt die metallene Wendeltreppe, die zur Fußgängerbrücke führt. Er rennt über die Straße auf die Treppe zu, den Pflasterstein an die Brust gedrückt. Zwei Stufen auf einmal nehmend zieht er sich am eiskalten Geländer nach oben. Die Mitte der Brücke hat er schnell erreicht. Unter ihm lärmen Autos und LKWs im Sekundentakt vorbei. Er atmet die Abgase tief ein und ihm wird ein wenig schwindlig.
Er streckt den Arm über das Geländer, den Stein mit den Fingern fest umschlossen. Er lockert seinen Griff, der Stein löst sich aus seiner Handfläche. Zerbrechendes Glas, quietschende Bremsen. Der Junge schließt die Augen. Endlich gehört werden. Endlich gesehen.